Onkelwahn?! Ja!!!

wanjaeis

  • Es gibt bei The Simpsons diesen Hans Moleman, ein altes, verschrumpeltes Kerlchen mit dicken Brillengläsern. Homer trifft ihn einmal bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker, wo sich Hans zitternd erhebt und sich vorstellt wie folgt: „My name is Hans. Drinking has ruined my life. I’m 31 years old!“
    Daran musste ich denken, als Siggi Schwientek als Onkel Wanja auf der Bühne steht, die Wodka-Flasche in der Hand, und sagt: „Ich bin jetzt siebenundvierzig Jahre alt.“ (Schwientek ist 64, wirkt sogar noch zehn Jahre älter.)
  • Schönstes Bild: Ilja Iljitsch (Alexander Maria Schmidt) hebt Onkel Wanja hoch. Schwientek ist ja ein altes kleines Männchen, Schmidt hingegen ein fülliger Riese.
  • Diese Inszenierung ist so, als würde man Eis beim Schmelzen zuschauen.
  • Ernsthaft: Herzstück von Stéphane Laimés Bühnenbild ist eine Wand aus Eis (genauer gesagt, da steht ein Gerüst, an das einzelne Eisblöcke montiert sind). Das Auge kann zurückwandern zur Wand aus Eis und den Fortschritt des Schmelzvorgangs prüfen, immer dann, wenn das Stück, das sich davor abspielt, etwas dröge wird, was leider ziemlich oft der Fall ist bei dieser Inszenierung von Karin Henkel. (Ihren Amphitryon und sein Doppelgänger fand ich noch toll.)
  • Da ist zum Beispiel die Musik von Alain Croubalian, der auch persönlich mit E-Gitarre auf der Bühne steht, unter den Schauspielern, und öfters mal stille, atmosphärisch beunruhigende Töne anspielt, die dann den eigentlich komischen Dialogen das Leben aussaugen. Zwar handelt das Stück ja davon, wie die Welt der Protagonisten untergeht, aber wenn man dann die Melancholie anstelle der Komik betont, wirds bald einmal wehleidig. Ein bisschen weniger Jammern, etwas mehr Wahn wäre schön gewesen.
  • Apropos Weltuntergang: Darum das mit dem Eis, weil: Schmelzendes Eis –> Klimawandel. Der Arzt (Markus Scheumann) doziert in seiner Freizeit dann auch vom Waldsterben und der abnehmenden Biodiversität.
  • Lernt man hier was, dann jenes: Die Menschen waren immer schon schlecht und haben immer schon am Weltuntergang gewerkelt. Da kann man sich wirklich nur noch in ein frühes Grab saufen.

Hier gehts zur Webseite vom Schauspielhaus
Diese Kritik erschien zuerst beim Kulturmutant

Stör den Schiffbau!

Über René Pollesch‘ aktuelles Stück Love/No Love, das zurzeit seine letzten Tage im Schiffbau verlebt. Übrigens, den Pollesch, den kennen wir ja noch von Herein! Herein! Ich atme euch ein!

Als würde ein gigantischer Stör im Schiffbau laichen, regnen schwarze Plastikbälle auf die Schauspieler herab. Sie werfen die Bälle und rollen auf dem Bauch über die Bühne — was die Zuschauer im Anschluss an die Vorstellung prompt nachmachen.

René Pollesch ist das Spielkind unter den Regisseuren. Das Publikum zieht er an der Hand auf den Spielplatz, ebenso seine Darsteller. Inga Busch, Nils Kahnwald und Marie Rosa Tietjen stellt er einen Chor aus einundzwanzig jungen Männern gegenüber, die als ein einzelner, mehrzelliger Organismus handeln. Sie alle tragen orange Trainer, auf deren Vorderseite ein silbernes Palmenmuster angebracht ist. Wie grellbunte kleine Guppys rennen sich durch den Raum. Die Souffleuse Rita von Horváth rennt mit.
Überhaupt, der Raum. Polleschs Bühnenbildner Bert Neumann hat den Boden und die Zuschauerränge ebenfalls orange gestrichen. Hinten an der Wand steht in metergrossen (natürlich orangen) Lettern „Dead End“. Ein Wortspiel aus „Sackgasse“, „Tod“ und „Ende“.

Der Chororganismus schleicht sich in eine Wohnung ein und ersetzt die Möbel: Badewanne, Schrank, Hometrainer oder Waschmaschine: Alles aus orangen Guppys gemacht. Damit werfen sie die Wohnungsbewohner in eine existentielle Krise. Tod? Liebe? Individuum? Zufall? Hitchcock? Reden wir darüber, über uns selbst und über dieses Stück, das wir grad spielen –  am besten in einem Höllentempo.

Dazwischen streuen wir Monty-Python-Sketches ein oder spielen die Tanzszene aus „Napoleon Dynamite“ nach.
Ist das noch eine Hommage oder schon ein Plagiat?
Geht hier mit Pollesch der Spieltrieb durch?
Bezahlt das Schauspielhaus für die ganzen Songs, die der Regisseur benützt? (Madonnas „Die Another Day“ kann nicht billig gewesen sein.)

Die Darsteller werfen sich die grossen Themen um die Ohren wie die schwarzen Plastikstöreier. Wir alle sitzen zusammen in der Box, die sich durch die Sommerhitze und das Menschenfleisch erwärmt, als sässen wir in einem riesigen Brutkasten.
Was schlüpft am Ende aus den Eiern? Eine anregende Kopfgeburt? Oder gibts bloss Rührei?

Transit Zürich I – Raum gegen Stücke

Der Raum

Das Atrium im Schiffbau bündelt die Aufmerksamkeit nicht. Nach oben offen, zerfasert sich die Akustik in den freien Himmel. Dazu röhrt eine Lüftungsanlage, fliegen Flugzeuge über den Himmel, fährt draussen eine Ambulanz vorbei. Obenan wohnen Leute, blicken beim Gang aus der Wohnung auf die Zuschauer hinunter – begaffen einen beim Begaffen dreier Kurz-Stücke.

Weiterlesen