Die Engagierten Zuschauer

I

Es gehört zu meinen Pflichten,
Schönes zu vernichten als Musikkritiker,
Sollt ich etwas Schönes finden,
Muß ich’s unterbinden als Musikkritiker.
Mich kann auch kein Künstler überlisten,
Da ich ja nicht verstehe, was er tut.“

(Georg Kreisler, Der Musikkritiker)

 

Kreislers Abrechnung mit den Musikkritikern ist selbst eine Kritik. Er drischt zwar auf dem Vorurteil herum, aber es ist ergötzlich. Auch wenn sich die Kritik seit den 60ern gewandelt hat (und vor allem die Kritiker und Kritikerinnen: Es gibt überhaupt mehr von zweiteren und erstere sind nicht mehr so alt und arrogant wie sie früher waren), so lebt das Vorurteil weiter. Es soll jetzt nicht darum gehen, dieses Vorurteil zu bedienen, aber ich möchte es doch als äussersten Punkt nehmen, von dem ich beginne. Es soll darum gehen, wie das Verhältnis zwischen Kritik und Publikum auch beschaffen sein könnte.

Grundsätzlich wird mit Kritik ja Negatives verbunden. Kritiker wären Leute, die es besser wissen, aber nicht besser können. Sie würden ihre Unfähigkeit durch Rezensionen und Kritiken kompensieren. Schlimmstenfalls von unterdrückter Gehässigkeit und bösartiger Häme zerreissen sie, was ihnen nicht behagt. Bestenfalls schreiben sie so verschwurbelt, dass es nur ihre eigene Klientel nachvollziehen kann. Kritik wäre also entweder giftig oder elitär – häufig sogar beides.

Jenseits solchen Vorurteils wird die Kritik an der Kritik nicht besser, und das Negative bleibt haften. Kritik verderbe den Spass und Genuss des Werkes, indem sie überprüft, anstatt zu geniessen. Was unterhalten hat, wird hinterfragt; was sinnlich war, wird analysiert; was in sich stimmig war, wird zerredet. Manchmal kann also nichts so grausam sein, wie der Moment, wo ein kritisches Wort das Sich-Wohlfühlen und die behagliche Gemütlichkeit eines unterhaltsamen Abends dadurch zerstört, dass man zum Nachdenken genötigt wird.

Soweit einmal das Extrem im Hinblick auf den Kritiker.

Noch keiner unter uns fand alles gut, was alle Anderen für gut befanden. Jeder kennt das Gefühl, dass etwas nicht stimmt mit dem Werk. Ein bohrendes Gefühl, ein anhaltender Nachhall. Wir kommen aus dem Kino raus, wir sind mit Freunden in einer Inszenierung gewesen, wir haben das Buch gelesen, von dem uns vorgeschwärmt wurde – und wir suchen nach den Worten. Wir regen uns vielleicht auf, wir diskutieren mit den Freunden (vielleicht auch Fremden, die wir an dem Abend treffen), die Wortmeldungen überschlagen sich. Die Stimmen werden lauter, wir argumentieren, wir streiten, wir – wir kritisieren.

Natürlich ist das nicht Kritik im journalistischen Sinne, im Sinne einer Kulturberichterstattung.

Es geht viel mehr um Ahnung, um dumpfe Fühlung: Etwas, das uns stört oder begeistert, was uns gepackt hat und nicht mehr loslässt. Solche ahnende Fühlung, solches gemeinsames Streiten ist die Basis für Kritik. Sehr selten bleibt es nämlich bei blosser Meinungsäusserung, es wird durch das gemeinsame Gespräch auch Meinungsbildung. Das nächste mal, wenn wir mit diesem Werk konfrontiert werden, beziehen wir uns wieder darauf. Hören wir den Namen des Regisseurs wieder, leuchten oder rollen unsere Augen und zeigen dem Gegenüber, was wir von dem letzten Werk halten, damals – als wir in diesem oder jenen Kino waren. Wir reproduzieren den Abend und das Werk. Wir wissen noch, mit wem wir vor Ort waren, wo wir vorher assen oder eins trinken waren. Wir erinnern uns an die nervenden Seufzer der Langeweile der Person neben uns.

„Halt, halt,“ so meldet sich der Kritiker alter Schule an dieser Stelle des Textes. „Was Sie hier formulieren, ist doch banal. Das kann ja Jeder, eine Meinung haben. Essen, Trinken, Rendezvous? Das sind Lappalien des Alltages! Es geht doch ums Werk! Damit verkürzen Sie, es geht ja eben darum, mehr zu sagen als dieses ‚von Kunst versteh ich nichts, aber ich weiss was mir gefällt!‘ Wenn auch die mitreden, die nichts davon verstehen, wird das die Banalisierung der Kritik nach sich ziehen.“

Hier also das andere Extrem, im Hinblick auf das Publikum.

So trifft das Vorurteil gegenüber der Kritik auf sein Vorurteil gegenüber dem Publikum. Auf der einen Seite stünden die blasierten Spassverderber, auf der anderen ahnungslose Meinungsplapperer.

Man kann die Vorurteile selbst als Vorurteile von sich schieben und die Sache damit als erledigt abtun. Es sind überspitzte Extreme. Man kann aber auch die Frage aufwerfen, ob da nicht mehr dahinter steckt. Die gegenseitige Wahrnehmung von Kritik und Publikum zeigt einen Graben auf, der ja umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass häufig ein Streit zwischen diesen beiden ausbricht, wenn beide das selbe gesehen haben. Die meisten von uns werden sich jenseits extremer Positionen in die Mitte stellen, und unterstreichen, dass beides seine Berechtigung hat und Unterstützung verdient: Einerseits die Öffnung der Diskussion für Jene, die sich gerne auch melden würden und andererseits die Notwendigkeit, dass die Äusserungen zu den Werken einen Rahmen benötigen.

Kritik fängt ja beim Banalsten an, das da heisst: Wie finde ich das? – und wird sogleich kompliziert mit der Frage: Warum?

Niemand ist sicher davor, dass sein Verstand zum Verräter an der Empfindung wird und anfängt, nachzudenken. Ob uns solches bewusst wird und wir bewusst nach Formulierungen suchen, ist eine persönliche Entscheidung. Ob es Kritik genannt werden darf, hingegen: Entscheidet die Gattung.

Niemand kann für uns selber sprechen, kann exakt das ausdrücken, was wir gedacht und empfunden haben. Warum aber der schlechte Ruf der Kritik und der Kritiker? Vielleicht weil es uns stört, wenn Jemand etwas formuliert, das sich nicht mit unserer Wahrnehmung deckt.

Kann man den Kritikern vorwerfen, dass sie formulieren? Nein.

Kann man im Gegenzug dem Publikum vorwerfen, dass es selber von diesem Recht kaum Gebrauch macht? Kann man das? Es fehlt doch an Gefässen, an Plattformen, wo solches möglich wäre…

 

II

Und schreit das Publikum ,,Hurra!“,
Das nützt euch nichts, dann ich bin da!“

 

Die Zeichen des Zeitgeists weisen deutlich weg von der Tagespresse, der Kulturberichterstattung und auf eine horizontale Ausdehnung der Kritik. Die digitalen Medien mit ihren sozialen Netzwerken und der Möglichkeit, sich direkt einzubringen befördern diese Verbreiterung. Gleichzeitig fand auch eine Erosion dessen, was Öffentlichkeit bedeutet, statt. Anstatt einer Öffentlichkeit existieren viele partikularen Öffentlichkeiten. Die (Theater-)Kritik wurde wie das Theatersehen/-besuchen zu einer Nischenangelegenheit eines sich dafür interessierenden Milieus. Das Theaterschauen wird eine Konsumentscheidung, die sich als solche nicht mehr unterscheiden lässt von anderen Konsumentscheidungen. Theaterkritik wird entsprechend zunehmend unter diesem Aspekt angesehen werden: Was lohnt sich zu schauen?

Die Theaterkritik hat diese Entwicklung schon lange wahr genommen und entsprechende Plattformen existieren. Die Überführung der Theaterkritik von der Tageszeitung in die digitale Sphäre wurde vollzogen, aber eben: Als Plattform eines Milieus, einer partikularen Öffentlichkeit. In diesem Sinne ist das Projekt von Nachtkritik zu verstehen. Es versammelt im digitalen Zeitalter Kritiken zu den Inszenierungen von Rang und Namen. Im Anschluss an eine Inszenierung in Zürich kann ich dort eine Kritik zu einer Inszenierung in Hamburg nachlesen. Für Leute, die sich intensiv mit Theater auseinander setzen, ist diese Möglichkeit, Eindrücke zu weit entfernten Inszenierungen abrufen zu können, eine Erweiterung. Der gelegentliche Zuschauer in Zürich wird sich aber zurecht fragen, was ihm denn eine Kritik zu einer Hamburger Inszenierung im Anschluss zur Zürcher Inszenierung, die er eben besucht hat, bringt.

Im Gegensatz zur digitalen Netzkultur operiert Theater lokal. Würde es das nicht, wäre es kein Theater mehr. Das Theater bedingt, dass sein Publikum vor Ort zusammen kommen muss. Der Theaterzuschauer kann nicht am heimischen PC eine Inszenierung anschauen und sogleich kommentieren, wie er es bei der Übertragung eines Live-Events oder einer Tatortfolge kann. Digitalisierte Formen der Theaterauseinandersetzung erweitern so zwar die Zugänge für jene Kreise, die interessiert sind oder nicht dabei sein können, sie verändern aber nichts für Jene, die bereits da sind. Es ist doch beinahe ein grotesker Witz des Weltgeistes, dass die Umsetzung des technischen Fortschritts für das Theater das Gegenteil seiner Verheissung bedeutet…

Nein: Wünscht man sich ein Zusammenkommen der Theaterzuschauer im Anschluss an die Inszenierung, so muss dieses zwangsläufig direkt im Anschluss an die Inszenierung geschehen.

Das Publikum ist unmittelbar vor Ort: Es steht unter dem Eindruck, es ist am Verarbeiten, es stellt sich Fragen. Die Bereitschaft zu und der Wunsch nach Erklärung, Klärung, Formulieren ist jetzt gegeben. Jetzt wäre es bereit. Nachdem das Publikum still und stumm da gesessen und zugehört hat, soll sich nun aber seine Möglichkeit zur Beteiligung auf eine monotone Handbewegung beschränken. Nachdem man dem Publikum so viele Bilder und Gedanken gab – manchmal schon halbe Denkaufgaben, herausfordernde Situationen, aufwühlende Gefühle, die sich manchmal bis tief in sein Inneres rein krallen, ihn ergreifen und selten sogar seine Welt erschüttern – nachdem es also solches durchgemacht hat, was geschieht da als nächstes?

Es wird des Hauses verwiesen.

Es ist eigentlich zu komisch, um es sich auszudenken: Das Theater verweigert dem Publikum die Partizipation, die es von der Form her überhaupt definiert. Wäre es nicht Tradition, es könnte sich kaum durchsetzen. Selbst der Kulturjournalismus bietet manchmal seinen Lesern mehr Möglichkeit zur direkten Beteiligung an als das Haus, dessen Inszenierung besprochen wurde: Online kann die Kritik zur Inszenierung kommentiert werden. Ist das nicht irrsinnig, wenn eine Form wie die des Theaters, die – was Jede/r Theatermacher/in unaufhörlich betont – von ihrem Publikum lebt, so wenig auf sein Publikum eingeht? Sicher, gelegentlich findet ein Publikumsgespräch oder ähnliches statt. Aber die meisten dieser Formate wiederholen die vorherige Anordnung: Auf der Bühne die Spieler, die reden – unten das Publikum, das zuhört. Die Rolle des Publikums bleibt darauf beschränkt, Stichwortgeber zu sein.

 

III

Aber oh, mich belastet nur eine Verrücktheit,
Ich merk es in jedem Konzert:
Ich seh, wie das Publikum weich wird wie Wachs,
Wenn Musik alle Sinne bewegt,
Ich seh, wie beim Zuhören manch trutzigem Manne
Ein Tränchen die Brille beschlägt.“

 

Aber gibt es sie denn nicht, diese Gefässe und Plattformen, wo der Zuschauer sich einbringen kann?

Es gibt solche. Sie existieren am Rande, sie nähern sich von der Peripherie des Publikums an, und befinden sich nicht im Zentrum des Werkes (oder des Journalismus). Sie sind Versuche, sie sind klein. Es gibt unbestritten noch viele mehr als die hier aufgezählten. (Ich bitte darum, weitere zu nennen.)

Die Voyeure sind als Club für engagierte Theaterzuschauer organisiert. Mittlerweile bestehen fünf verschiedene lokale Clubs in der Schweiz, die den gemeinsamen Besuch von Theaterinszenierungen auf regelmässiger Basis anbieten. Die an die Inszenierung anschliessenden gemeinsamen Gespräche ermöglichen es, das Gesehene zu diskutieren und zu kritisieren. LitUp zeichnet sich ebenfalls durch ein Format aus, bei dem das Publikum eine aktive Rolle erhält. Sie organisieren literarische Salons, bei denen das Publikum selber Texte beisteuert, selber auch vorlesen kann – aber nicht muss. Delirium versammelt in seinem Magazin literarische Texte, sowie zu jedem Text eine Kritik. Viele der Kritiken sind mittlerweile selber als literarische Experimente zu verstehen (und sind manchmal lesenswerter als die verhandelten Texte). Die Texte beziehen sich häufig auf ältere Ausgaben, wodurch ein Diskussionsfaden entsteht. Durch performative Lesungen wird versucht, das Format der Zeitschrift zu erweitern. Der Kulturmutant versteht sich gleich als Kritikplattform. Als blog berichtet er unregelmässig über die Sachen, die seine Schreiber interessieren. Das heisst, es finden sich – abhängig von den Interessen – Kritiken zu Filmen, Comics, Ausstellungen, Literatur oder Bühne. Die Abhängigkeit vom Interesse der einzelnen Kritiker führt zu einer Unabhängigkeit in Form und Inhalt. Die Kritiker schreiben ehrenamtlich und rein nach Lust und Laune. Im Gegensatz zu Kulturkritik (Es wurde 2015 eingestellt und soll hier erwähnt werden, da es Nachwuchskritikern online eine Publikationsmöglichkeit anbot und sich den Institutionen als on-demand-Kritik-Pool anbot) ist hier also kein Geschäftsmodell vorhanden: Der blog lebt von der Initiative seiner Schreibenden.

Der Kritikerclub zuletzt ist ein Projekt des Jungen Schauspielhauses. Die Mitglieder des Clubs gehen gemeinsam Inszenierung besuchen und unterhalten sich darüber, und schreiben Kritiken. Im Rahmen des Clubs werden nicht nur die Inszenierungen thematisiert, sondern auch die Auseinandersetzung mit ihnen. Der Versuch geht hier in die Richtung, die Auseinandersetzung und Diskussion über die Inszenierung mit jener über die Kritik als Form zu kombinieren.

Man sieht bei den erwähnten Projekten zwei Tendenzen hervor treten: Einerseits werden dem Publikum Formate angeboten, welche die gemeinsame Rezeption und das Gespräch zum Werk in den Vordergrund stellen – anderseits wird mit Kritikformen experimentiert, die sich unabhängig von der journalistischen Tradition der Kulturberichterstattung verstehen.

Wo diese zwei Tendenzen zusammen fallen, könnte man von einer teilweisen Überführung der Kritik an das Publikum reden. Das Publikum erhält die Möglichkeit, sich zu äussern, seine Beschäftigung zu vertiefen. Es kann seine Gedanken formulieren und hat eine Plattform dafür. Es übt Kritik aus, ohne dass es Kritiker wäre. Solche Kritik aus dem Publikum wird getragen von Engagierten Zuschauern, die sich im Moment des Angebot angesprochen fühlen und darauf eingehen, weil sie den Wunsch haben, sich vertieft mit dem Werk, das sie besuchen, auseinander zu setzen.

Man stelle sich mal vor, diese Tendenz würde sich ausweiten…

 

IV

Und so hab auch ich die Ehre
Und mach jetzt Karriere als Musikkritiker.
Ich hab zwar ka Ahnung, was Musik ist,
Denn ich bin beruflich Pharmazeut,
Aber ich weiß sehr gut, was Kritik ist:
Je schlechter, um so mehr freun sich die Leut.“

 

Ich glaube, es ist unerlässlich, diese Überlegungen zum Verhältnis von Kritik und Publikum zu vertiefen. Beginnt man nämlich, Formate wie die oben erwähnten weiter zu denken, anstatt sie wohlwollend als Durchgangsstationen für angehende Kulturjournalisten zu betrachten, stellen sich herausfordernde Fragen:

Wie wäre eine Kritik beschaffen, die sich nicht mehr am Journalismus orientiert, sondern aus dem Publikum organisiert? Wie würde sich unser Verständnis von Kritik verändern, wenn sie vor Ort und im Anschluss zusammen fiele mit Rezeption, Reflexion und Vermittlung? Was hiesse es für das Theater, wenn alle aus dem Publikum, die zu verstehen suchen, auch die Zeit und den Raum erhielten, gemeinsam mit Anderen zu formulieren? Wie würden wir über Kunst denken, wenn wir beim Gespräch darüber nicht das stärkere Urteil, sondern das gemeinsame Gespräch suchten?

Würde das Ausweiten solcher Formate die gegenwärtige Kulturberichterstattung konkurrieren, oder würde sie deren Rolle auf einer anderen Ebene neu bestimmen? Würden solche Formate, die aus den Reihen des Publikums kommen, eine Banalisierung der Werke und ihrer Inhalte nach sich ziehen – oder würde solche verstärkte Beteiligung die Kunstformen zu neuer Blüte führen?

Zudem kommt noch ein weiteres wichtiges Element zum Vorschein. In einigen der oben aufgeführten Beispielen hat das Aufweichen der Bindung von Kritik und Journalismus auch die Form der Kritik aufgeweicht. Nicht mehr an die Gebote der Tagespresse gebunden entdeckt solche Kritik eine neue Freiheit in der Form. Die Texte können länger sein, sie können viel mündlicher sein; sie können ungeahnte und spannende Sprünge vollziehen, Thesen und Gedanken ausbreiten; sie können die Subjektivität eines Textes nicht nur betonen, sondern zum herausfordernden Motiv annehmen. Kritik wird zum Essay, bedient sich hier plötzlich bei der Lyrik, ist in Dialogform geschrieben oder wird gleich mit anderen Medien verbunden: In Tonform, in Bildform; als Comic oder als Video. Kritik ist hier wirklich auf dem besten Weg, zu dem zu werden, was der Urgrossvater der Kritik, Alfred Kerr, gefordert hat: Eine eigenständige Kunstform.

Solchem Verständnis geht die Verschiebung eines anderen Verhältnisses voraus, das wir bisher nur gestreift haben. Indem die Zuschauer im Anschluss an die Inszenierung selbst aktiv werden, verschiebt sich die Rollenverteilung. Waren zuerst die Akteure auf der Bühne kreativ tätig, so sind es im Anschluss die Zuschauer. Darin liegt der Paradigmenwechsel: Nicht mehr nur die Bühnenakteure, auch das Publikum drückt sich jetzt kreativ aus. Zugegeben, es klingt (noch) utopisch: Das Publikum drängt darauf, einen aktiven Part zu übernehmen, sich selbst einzubringen und verlangt nach eben jener Bühne, auf der es eben noch die Inszenierung bestaunt hat. Wie oben beschrieben, geht es nicht nur um das Verhältnis zwischen Publikum und Kritik, sondern auch um die Instanzen, welche Ort und Schauplatz solcher gemeinsamer Abende sind. Vermutlich ist es abwegig, z.B. von Theatern zu verlangen, sie sollten im Anschluss an ihr Programm die Bühne für die Zuschauer räumen oder Gesprächsformate für Hunderte von Leuten anbieten, so dass Jede/r sich äussern könnte. Der Aufwand wäre ökonomisch unsinnig, da es Unmengen an Zeit, Geld und vor allem an Vermittlungsarbeit kosten würde. Aber vielleicht muss es auch nicht darum gehen, dass die etablierten Institutionen solches auch noch anbieten für die Zuschauer. Die Ausweitung des Angebots allein verändert die bisherige Rolle des Zuschauers als Konsumenten nicht. Es muss auch vermittelt werden, was die obigen Beispiele zusätzlich ausmacht.

Wenn das Modell des Engagierten Zuschauers Zukunft haben sollte, wird es sich in der Aktivität des Zuschauers verwirklichen, und nicht in jener der Institutionen. Die Herausforderung wäre dann für die Häuser, hierfür offen zu sein und darauf einzugehen.

 

V

Ich geh in Konzerte und Opern hinein
Und ich hör mir den Unsinn dort an,
Den Leuten gefällt’s und ich komm zu dem Schluß:
An Musik ist vielleicht etwas dran…“

 

Der Kritikerclub des Jungen Schauspielhauses wird diesen Freitag, den 27. Juni im Literaturhaus Zürich seine Abschlusspräsentation halten.

Im Verlauf der letzten Monate wurden verschiedene Inszenierungen besucht. Die folgenden Inszenierungen des Schauspielhauses wurden ausgewählt und werden im Verlauf der Präsentation Erwähnung finden: Hexenjagd, Einige Nachrichten an das All, Nachtstück und Nathan der Weise.

Die Mitglieder des Clubs haben mit verschiedenen Formaten experimentiert und werden eine Auswahl zeigen. Ob jetzt eher klassisch oder performativ – ihre Beiträge sind Versuche oder Vorschläge. Es sind Versuche, das Gesehene zu beschreiben, zu erfassen – es sind Vorschläge, was das heissen könnte, ein Engagierter Zuschauer zu sein. Es würde den Beiträgen nicht gerecht werden, wenn man von ihnen erwartet, Kritik im Sinne von Kulturberichterstattung zu sein – hingegen findet man in den unterschiedlichen Zugängen und Ausdrucksformen eine Erweiterung dessen, was Kritik bedeutet.

Auch wenn man also keine dieser Inszenierungen besucht hat, lohnt sich der Besuch für diejenigen, die ein Interesse an solchen Tendenzen in der Kritik haben oder an der Diskussion über diese.

Alle Interessierten sind ganz herzlich eingeladen, vorbei zu kommen, sich als Publikum anregen zu lassen und im Anschluss mit uns im Gespräch über die Inszenierungen und/oder die Kritik auszutauschen.

 

Kritikerclub – Präsentation und Gespräch zur Theaterkritik

Freitag 27. Mai 2016, 19.00 Uhr, im: Debattierzimmer des Literaturhauses, 3. Stock.

Mit: Mariana Gruenig, Jan Mikelson, Rahel Hochstrasser, Ursina Füglister, Dan Filimon, Arthur Sobrinho – Leitung: Albrecht Lehmann

2 Kommentare

  1. Pingback: Die engagierten Zuschauer | delirium

  2. Pingback: Gastbeitrag: „Die Engagierten Zuschauer“ | kulturmutant

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